Unheimliche Geschichten: Die weinende Statue
Die weinende Statue
Bewundernd wanderte Tamara durch den schönen Rosengarten.
„Hat Marco all diese Statuen erschaffen?“, fragte sie und blieb vor einer stehen, die eine junge Frau darstellte. Sie hatte ein hübsches aber trauriges Gesicht. Eine besonders schöne Arbeit, alles wirkte so lebendig, dass Tamara beinahe darauf wartete, dass die Figur sich bewegte.
„Alle, ja, auch diese hier. Es ist eine traurige Geschichte …“
Seine Verlobte hatte das Gefühl, dass ihnen jemand folgte und sah sich unruhig um. Aber da war niemand.
„Miriam war meine Braut. Im Mai letzten Jahres sollte die Hochzeit stattfinden. Aber sie benahm sich immer seltsamer, und 2 Tage vor dem Termin verschwand sie spurlos. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört.“
Tamara fasste Andreas mitfühlend am Arm.
„Das ist ja furchtbar!“ Der junge Mann zuckte die Schultern.
„Marco hat mich gewarnt, aber ich wollte ja nicht hören.“
Marco war der ältere Bruder und Besitzer des Anwesens. Er war von Geburt an gehandicapt und ließ niemanden außer Andy an sich heran. Meist arbeitete er zurückgezogen in seiner Werkstatt, wo er wundervolle Skulpturen meißelte.
„Das ist vorbei - alte Wunden soll man nicht aufreißen, wenn sie grad verheilt sind.“ Eng umschlungen gingen die zwei durch den Rosengarten. Hasserfüllte Augen beobachteten sie ganz aus der Nähe.
„Und das hier ist Marcos Reich.“ Andreas warf einen Blick durch die offene Tür in das Kellergewölbe.
„Warum hat er sich denn ausgerechnet den düsteren Keller ausgesucht? Braucht er kein besseres Licht zum Arbeiten?“ Verwundert schaute Tamara sich um.
„Das passt zu meinem Bruder.“
Schlurfende Schritte erklangen hinter ihnen.
„Was macht ihr hier? Andy, ich möchte nicht, dass du Fremde mit runter bringst.“ Böse schielte Marco Tamara mit schief gedrehtem Kopf an. Er war ein kleiner missgestalteter Mann mit einem großen Buckel, der ihn hinderte, aufrecht zu gehen. Wiederholt hatte sie versucht, Freundschaft mit Marco zu schließen - vergeblich.
„Tamara ist keine Fremde, das weißt du genau! Sie ist meine Verlobte, finde dich endlich damit ab!“ Brummelnd verschwand der Bucklige in der Werkstatt und schlug die Tür hinter sich zu.
Der junge Mann seufzte:
„Ich verstehe ihn nicht. Er ist ein richtiger Eigenbrötler geworden seit dem Tod unserer Mutter vor ein paar Jahren. Jetzt habe ich noch zu arbeiten. Sehen wir uns zum Abendbrot?“
„Gut, dann gehe ich noch einmal in den Rosengarten.“ Leichtfüßig eilte die 20-Jährige die Treppen hinauf.
Vor Miriams Statue blieb sie stehen. Seltsam, dass dieser ungehobelte Kerl so schöne Dinge mit seinen klauenartigen Händen erschaffen konnte. Da war ihr, als hätte die Skulptur ihren Gesichtsausdruck geändert. War es ein Regentropfen oder eine Träne, die da aus dem linken Auge lief? Doch es waren gar keine Wolken am Himmel zu sehen.
Ich muss mich geirrt haben, dachte Tamara verwirrt.
„Marco lässt sich entschuldigen. Er arbeitet noch im Keller“, sagte das Hausmädchen schnippisch und trug die Suppe auf.
„Es ist gut, Emilia. Dann werden wir nicht auf ihn warten“, entgegnete Andreas ruhig.
„Wenn ich hier fertig bin, gehe ich aber …“
„Sicher, er kann sich alleine nehmen, was er möchte. Ich denke aber nicht, dass er überhaupt noch etwas isst heute.“
Tamara seufzte. Es sah ganz so aus, als müsste sie mit Andy auch Marco akzeptieren, das hatte er unmissverständlich erklärt. Er fühlte sich für den Bruder verantwortlich und würde nie fortziehen. Vielleicht war Miriam deshalb weggelaufen.
„Was hast du?“, fragte ihr Verlobter besorgt.
„Nichts, es ist alles in Ordnung.“ Sie zwang sich, zu lächeln.
Eine Hand legte sich grob auf ihren Mund. Sie versuchte, zu schreien und brachte doch keinen Ton hervor. Es war leichtsinnig, allein auf dieser Bank im Garten zu sitzen, jetzt wo es dunkelte und Andy mit den Rechnungen beschäftigt war.
„Hast du gedacht, du kannst ihn mir wegnehmen? Da hat sich schon mal jemand getäuscht“, zischte eine Stimme dicht an ihrem Ohr. „Sieh dich vor! Ich beobachte dich ganz genau!“
Dann lockerte sich der Griff. Tamara zitterte am ganzen Körper. Als sie sich umsah, war niemand da.
„Ich drehe schon langsam ab“, flüsterte sie.
Es wurde eine unruhige Nacht voller Albträume.
„Er wird dir etwas antun“, sagte die Skulptur, die aussah wie Miriam. Eine Träne lief ihr quer über das Gesicht. Als Tamara sie fortwischen wollte, wurde sie dunkelrot. Miriam weinte Blut.
Schreiend fuhr Tamara im Bett hoch.
„Was ist denn, Liebes? Hast du schlecht geträumt?“ Die junge Frau nickte verstört: „Die Statue - sie weint Blut.“
„Unsinn. Das war nur ein Traum … Schscht, alles ist gut.“
„Es ist wohl wegen gestern Abend. Marco …“ Andy wurde hellhörig. „Was ist mit Marco?“
„Ich bin mir nicht sicher - aber …“ Tamara erzählte, was geschehen war. „Vielleicht war er es auch gar nicht“, schloss sie.
„Wer soll es denn sonst gewesen sein? Außer ihm und mir ist niemand mehr hier nach 20 Uhr.“
Andreas musste seinem Bruder ins Gewissen geredet haben, denn Marco wurde tatsächlich etwas freundlicher. Eines Tages winkte er Tamara, dass sie mit ihm kommen solle. Etwas mulmig war ihr schon, als er sie in das Kellergewölbe führte. Er schielte hoch:
„Du hast doch nicht etwa Angst?!“ Sein Lachen hallte boshaft von den Wänden wider. Doch, sie hatte Angst!
„Pst. Ich zeige dir, woran ich arbeite. Aber nichts Andy verraten! Es soll ein Hochzeitsgeschenk werden.“ Wieder das unheimliche Lachen.
Und dann sah Tamara in ihr eigenes Antlitz, gemeißelt aus Stein.
„Aber - aber das ist wunderschön!“ Atemlos sah sie den Buckligen an. Der grinste zufrieden und legte beschwörend den Finger auf seine Lippen.
„Ich verrate nichts“, versprach sie.
Draußen atmete sie gierig die frische Luft ein. Im Keller roch es stets ein wenig modrig. Sie war lange Zeit nicht mehr im Rosengarten gewesen und beschloss, einen kleinen Ausflug zu den Skulpturen zu machen. Hier fand sie zu ihrer Überraschung auch Andreas und den Gärtner vor.
„Das ist eine echte Schweinerei! Ist das rote Farbe? Wer macht denn so was?“ Der Gärtner hob ratlos die Schultern.
„Keine Ahnung! Mein Gehilfe und ich versuchen seit Stunden, das wegzuputzen. Aber es verschmiert nur. Es ist fast, als würde die Statue Blut weinen.“
„Wie in meinem Traum. Aber ich verstehe nicht, warum“, flüsterte Tamara.
„Er hat mich eingemauert“, anklagend hob die Skulptur ihre Hand, während ihr blutrote Tränen über das ganze Gesicht liefen. Unten stand der Gärtner und sammelte die Tränen in einer großen Wanne aus Emaille. Sie war schon fast voll. Und darin badete mit boshaftem Grinsen ein Gnom.
„Marco“, schrie Tamara entsetzt und fuhr aus dem Albtraum hoch.
„Andy, ich weiß, wo Miriam ist! Wir müssen die Statue öffnen!“ Sie rüttelte ihren Verlobten aus dem Schlaf.
„Was? Was redest du da? Die Statue ist aus Stein.“
Tamara schüttelte wild ihren Kopf.
„Nein, sie muss innen hohl sein. In ihr steckt die Leiche!“
„Du bist ja verrückt! Ich kann doch die Skulptur nicht zerstören! Mein Bruder würde mich umbringen!“ Nachdenklich sah sie ihn an.
„Ja, genau!“
Zwei Tage später kam ein Experte, der die Skulptur der Miriam lange untersuchte.
„Die ist massiv. Da ist kein Hohlraum drin.“
Andreas warf seiner Verlobten einen langen Blick zu.
„Andy!“
Doch er ging, ohne sich umzusehen.
Hinter einem Busch hockte Marco.
„Es wird langsam Zeit. Du hältst dich wohl für sehr schlau“, brummte er mit grimmiger Miene.
Tamara ging es schlecht. Irgendwas war mit dem Tee nicht in Ordnung gewesen. Oder waren es die Kekse? Sicher steckte das Hausmädchen mit Marco unter einer Decke. Aber Andy würde ihr nicht glauben. Nicht nach der Sache mit der Statue. Am besten war es, einfach liegenzubleiben. Sie würde zwar gerne die Schlafzimmertür verschließen, fühlte sich aber zu schwach, aufzustehen.
Von unten kam lautes Gepolter. Nun würde Marco sie bald holen kommen und in die Statue einmeißeln …
Wie lange sie geschlafen hatte, wusste sie nicht. Sie nahm einen Schatten neben ihrem Bett wahr. Zu spät, fuhr es ihr durch den Kopf. Ergeben schloss sie die Augen. Sie hatte keine Kraft, um zu kämpfen.
„Fühlst du dich nicht wohl, Liebes?“ Andys Stimme. „Tamara, kannst du mich hören? Mein Gott, was hat er dir gegeben?“ Sie öffnete die Augen:
„Andy …“ Er half ihr, sich aufzurichten.
„Wir haben Miriams Leiche gefunden. In seiner Werkstatt hat er sie lebendig eingemauert. Sie muss qualvoll erstickt sein - all die Monate - ich hatte ja keine Ahnung.“ Bitter sah er sie an.
„Sie hat mich nie verlassen wollen.“ Tamara nahm seine Hand.
„Wie …“, flüsterte sie schwach.
„Er hat angefangen, die Mauer zu öffnen, wahrscheinlich für dich. Du solltest neben dem Leichnam von Miriam ebenfalls lebendig begraben werden. Er hat bereits eine Skulptur von dir angefertigt. Wie damals von Miriam - ein Hochzeitsgeschenk, wie er sagte. Er ist sehr krank, Tamara, geisteskrank. Er konnte es nicht ertragen, mich mit jemandem zu teilen.“ Andreas wischte sich die Tränen aus den Augen.
„Und ich war zu blind, zu sehen, wie er wirklich ist - meinte immer, ihn beschützen zu müssen.“
„Wo ist er jetzt?“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er mich gehört und ist fortgelaufen. Oder er musste noch etwas besorgen.“
„Er hat mir etwas in den Tee gegeben, glaube ich.“ Andy nickte:
„Sicher ein Betäubungsmittel. Er wird bereits polizeilich gesucht. Du musst keine Angst mehr haben. Sie werden ihn in ein Heim bringen, wo er niemandem mehr schaden kann.“
Marco wurde nie wieder gesehen - aber im Garten stand am Tag ihrer Hochzeit eine neue Skulptur - ein buckliger kleiner Mann mit einem Meißel in der Hand.
(Leseprobe aus dem Buch UNHEIMLICHE GESCHICHTEN
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Die deutsche Buchautorin Christine Erdic lebt zur Zeit hauptsächlich in der Türkei.
Beruflich unterrichtet sie in der Türkei Deutsch für Schüler (Nachhilfe), sie gab
Sprachtraining an der Uni und machte Übersetzungen für türkische Zeitungen.
Mehr Infos unter Meine Bücher- und Koboldecke
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